Viele Jahre hat er die Staudinger-Gesamtschule persönlich besucht. Aufgrund von Corona und auch auf Grund seines hohen Alters lässt Zwi Nigal sich diesmal jedoch, wie bereits im Vorjahr, digital zuschalten. Gebannt hängen die Schüler*innen aus den 10. und 11. Klassen am 1. Februar an seinen Lippen, als der fast Hundertjährige beginnt, aus seinem Leben zu erzählen:
„Ich wurde am 13. April 1923 als Hermann Heinz Engel in Wien geboren. Meine Kindheit war zunächst eine sehr glückliche“, so Nigal. „Meine Familie war gemäßigt religiös, ich genoss eine Erziehung, die einerseits zionistisch-jüdisch, andererseits österreichisch-national war.“ An dem humanistischen Gymnasium, das Nigal seinerzeit besuchte und an der circa ein Drittel der Schüler jüdisch waren, fühlte er sich wohl: „Die Stimmung an der Schule und die Lehrer waren immer korrekt. Ich genoss ein gutes Ansehen, weil ich in der Handballmannschaft war, hatte aber nie einen nicht-jüdischen Freund.“ Den Antisemitismus, der im Wien nach dem 1. Weltkrieg herrschte, bekam Nigals Familie bereits Anfang der 30er Jahre zu spüren: Nigals Vater, einem loyalen Staatsbeamten, der aus einer Eisenbahnerfamilie stammte, wurde eine Beförderung zum Bahnvorsteher in Wien-Nord von seinem Vorgesetzten mit den Worten, „Wir können es uns nicht erlauben, einen Juden in diese Position zu setzen“, verwehrt. Als sein Vater, ein geachteter Mann, in den Elternrat von Nigals Knabenschule gewählt wurde, kam es gar zu namentlichen Anfeindungen in der Zeitung.
Nach dem Einmarsch von Hitlers Armee im März 1938 ändert sich die Stimmung in Wien drastisch. Mit bewegter Stimme schildert Zwi Nigal dem jungen Publikum seine Erinnerungen: „Ich kam abends nach Hause und hörte die Abschiedsrede des damaligen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg im Radio. Er beendete diese mit den Worten: „Gott schütze Österreich“, anschließend ertönte die österreichische Nationalhymne – das war ein Moment, den man nicht vergisst. Am nächsten Morgen war der Himmel über Wien voller Flugzeuge mit Hakenkreuzen.“ Nigal schildert, wie er als damals 14-Jähriger mitbekommt, dass Juden verhaftet, zusammengeschlagen oder zu entwürdigenden Arbeiten wie dem Reinigen des Gehwegs mit Zahnbürsten gezwungen werden.
Auch in der Schule manifestiert sich der Faschismus: Das Kruzifix an der Wand muss einem Hitler-Porträt weichen, einige Lehrer verschwinden über Nacht und es herrscht extreme Disziplin. Seine guten schulischen Leistungen verschaffen Nigal weiterhin Respekt, wenngleich dieser zynisch formuliert ist. Nigal zitiert seinen ehemaligen Deutschlehrer, einen extremen Nazi mit goldenem Hakenkreuz am Revers, der ihm seinen Aufsatz vor der Klasse mit den Worten überreichte: „Die traurige Sache ist, dass wieder ein deutschfremdes Element die beste Arbeit geschrieben hat.“
Trotz dieser demütigenden Behandlung beteuert Zwi Nigal mehrfach, dass er Glück gehabt habe. So erinnert er sich an den Tag, als er von zwei Hitlerjugendmitgliedern und einem SA-Mann auf der Straße abgefangen und mit mehreren anderen Juden in einem Gebäude zusammengetrieben wurde. „Das Geringste, was mir hätte passieren können, ist, dass sie mich totschlagen. Aber es hätte auch schlimmer kommen können“, so Nigal. Es gelingt ihm, sich über eine Treppe nach oben zu schleichen und er rettet sich in einen Büroraum – ausgerechnet in das Parteilokal der NSDAP. Er setzt sich auf ein Sofa, verschanzt sich hinter einer Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ und rettet so vermutlich sein Leben. Während er sich versteckt, hört er, wie unten Fahrzeuge vorfahren, um die anderen Juden abzutransportieren.
„Im Dezember 1938 war das Glück für meine Familie dann aber leider vorbei“, erinnert sich Nigal. Die Familie muss von heute auf morgen ihre Wohnung räumen, eine fremde Frau erscheint eines Freitags in Begleitung eines Parteifunktionärs und erklärt den Eltern, dass sie bis Sonntag auszuziehen und welche Möbel dazubleiben haben. Fassungslos ziehen Nigal und seine Eltern mit einem kleinen Handwagen, auf dem sich die Habseligkeiten der Familie befinden, durch Wien zu ihrer neuen Einzimmer-Unterkunft – begleitet von hämischen Kommentaren der Umstehenden. In diesem Augenblick fühlt sich der Jugendliche Zwi von seiner Heimat Österreich im Stich gelassen: „Mir gingen damals Fragen durch den Kopf wie: Dafür ist mein Onkel als österreichischer Offizier im ersten Weltkrieg gefallen? Dafür hat meine Mutter als Krankenschwester Fronteinsätze geleistet? Das ist der Dank, dass mein Vater ein Leben lang Beamter bei der Bundesbahn war? Nie wieder Österreich!“
Der Abschied von Österreich und den Eltern kommt für Zwi Nigal schnell. Dem Vater, der im Palästinaamt arbeitet, gelingt es, seinem Sohn im Januar 1939 legal mit einer Jugendgruppe nach Palästina zu schicken. „Ich verabschiedete mich von meinen Eltern im Januar 1939 in der Überzeugung, sie in einigen Wochen wiederzusehen. Meinen Vater habe ich nie wiedergesehen, meine Mutter erst sieben Jahre später“, schildert Nigal bewegt. Der Vater kommt 1942 nach Theresienstadt und anschließend nach Ausschwitz, wo er ermordet wird, seine Mutter sieht Nigal erst sieben Jahre später in Palästina wieder.
Heute lebt Zwi Nigal in Ramat-Hasharon bei Tel Aviv, umgeben von seinen Söhnen und vielen Enkelkindern. „Mein Leben ist nichts Besonderes, es gab viele Schicksale wie meines“, meint Nigal bescheiden. Für die Schülerinnen und Schüler der Staudinger-Gesamtschule aber sind Nigals Lebenserinnerungen etwas durchaus Besonderes. Durch Zwi Nigal werden die schrecklichen historischen Ereignisse greifbar.
Hier einige Auszüge aus Briefen der Staudinger-Schüler*innen an Zwi Nigal:
„Ich bewundere Sie dafür, dass Sie alten Wunden öffnen und den Mut haben, zu sprechen.“
„Vielen Dank, dass Sie uns Ihre Lebensgeschichte erzählt haben. Sie ist sehr beeindruckend. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt. Besonders bemerkenswert fand ich die Stelle, als Sie von Ihrer Zeit in der Armee erzählt haben. Als Sie die überlebenden Juden trafen, die dachten, sie wären die einzigen, die überlebt hätten. Mein Vater musste auch aus seiner Heimat fliehen. Jedes Mal, wenn ich Geschichten wie seine oder Ihre höre, lässt es mich unendlichen Dank für meine Lebenssituation spüren.“
„Der Einblick in Ihr Leben war sehr wertvoll für mich, da es mir die Lebenssituationen in der Zeit des Dritten Reichs sehr nahe gebracht hat und ich diese durch Ihre Geschichte viel verständlicher sehen kann.“
„Als erstes möchte ich mich bei Ihnen für Ihre Mühe und Ihren Aufwand bedanken. Für uns Schüler ist so etwas etwas sehr Besonderes! Menschen wie Sie, Zeitzeugen, sind wirklich wertvoll und einzigartig.“
„Ich finde es super, was Sie tun, da es meiner Generation zeigt, was für schreckliche Verbrechen begangen wurden. Ich glaube auch, dass es sehr wichtig ist, so etwas von einem echten Menschen zu hören und nicht nur in Büchern zu lesen, da es sehr viel berührender ist.“
„Ich beneide Sie um Ihren Mut. Man muss sehr mutig sein, um so über seine schwere Vergangenheit zu reden, wie Sie es getan haben. Es ist unglaublich interessant, älteren Menschen mit so viel Lebenserfahrung zuzuhören. Wenn man über die damalige Zeit in den Geschichtsbüchern liest, fühlt es sich immer so weit entfernt an. Aber wenn man dann jemandem zuhört, der damals gelebt hat, wird einem klar, dass es in Wirklichkeit ziemlich nah ist.“
Herzlichen Dank an Stephanie Gaess für die Organisation der Zeitzeugen-Begegnung!
Text: Catherine Pasdar
Bild: aus dem Jahr 2018 vom letzten Zeitzeugenbesuch Zwi Nigals in Präsenz